Geliebter Feind

 

Jürgen Manemann

Wenn sich Menschen nahe kommen, laufen sie Gefahr, miteinander in Konflikt zu geraten. Nähe erzeugt Wärme, Geborgenheit, Schutz, aber auch Widerstand und sogar Gefahr. Diese Einsicht ist tief in unserem kulturellen Gedächtnis verankert. Als «ungesellige Geselligkeit» umschrieb das Immanuel Kant treffend, und sie ist im Lebensmodell der Nachbarschaft tief verwurzelt.
Denn Nachbarn sind permanente Grenzgänger und Nachbarschaft ist ein unstrukturiertes Gebilde. Ihre Grenzen sind flüssig, offen, unterbrechend. Das Charakteristische dieser Grenze ist nicht wie bei Landesgrenzen die Trennung. Die Nachbarschaftsgrenze ist weder die Grenze als Verbindung noch die Grenze als Waffenstillstandslinie. Sie begrenzt vielmehr, ohne genau zu bestimmen, was sie begrenzt. Durch die Grenze wird nämlich nicht definiert, wer und wer wie hinter der Grenze lebt. Nachbarschaftsgrenzen sind berührungssensibel; sie kennen keinen neutralen Streifen.

Aus diesem Grund ist der Nachbar ein Mensch, der immer wieder «Grenzärger» verursacht. Der Stellenwert, den dieser Grenzärger für die Identität hat, wird deutlich, wenn man über die Bedeutung nachdenkt, die der Raum für den menschlichen Körper besitzt. Der Körper eines Menschen und der Raum, in dem dieser sich bewegt, gehören zusammen, und zwar so sehr, dass in gewisser Weise die Grenze, das Grundstück und das Haus immer auch als Teil des eigenen Körpers aufgefasst werden müssen. Die Grenze, das Grundstück, das Haus – all das wird also als Teil des Selbst erfahren. So wird denn auch verständlich, warum eine Grenzverletzung als Körperverletzung empfunden werden kann. Deshalb ist Nachbarsein immer auch eine Ursache für Stress. Der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma benennt drei übliche Bewältigungsstrategien nachbarschaftlichen Stresses: die gute Nachbarschaft, bei der eine gewisse Grenzverletzung bewusst angestrebt wird, um Intimität herzustellen; die soziale Ächtung, also der Ausschluss aus der Nachbarschaft, etwa durch Gerede oder durch Lächerlichmachen als soziale Befriedungsstrategie; und drittens den Rechtsweg. Nachbarschaft ist folglich ein sozialer Ort, an dem lokale Gewalt immer wieder auftritt.

Wer bin ich ohne den anderen?

Warum ist das so? Es lohnt einen Blick in die Ideengeschichte und auf historische Ereignisse. Man denke an die Bibelgeschichte von Kain und Abel (Genesis 4, 1−16). Die Gefahr der Nähe wird hier in den Brüdern verdichtet; ihr Brudersein steht in dieser Erzählung von Beginn an im Zusammenhang mit Mord. Angesichts der Massenvernichtungen im 20. Jahrhundert liest Elie Wiesel, Auschwitzüberlebender, Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger, diese Geschichte als eine Erzählung der Menschheit, die für uns folgende Lehren bereithält: Menschen haben von Beginn an einander getötet. Derjenige, der tötet, tötet seinen Bruder. Wer seinen Bruder tötet, hat keinen Bruder mehr und ist niemandes Bruder mehr. Er mutiert letztlich auch zum Feind seiner selbst, denn: Wer bin ich ohne den Anderen? Ein lebender Toter, ein Zombie. Jeder Mord, so stellt Wiesel fest, ist in gewisser Weise ein Selbstmord.

Wie eng Bruderschaft, Feindschaft und Konflikt zusammenhängen, zeigt auch ein Blick auf die Religionskriege, die häufig Bruderkriege waren und immer noch sind, beispielsweise zwischen christlichen Brüdern oder zwischen abrahamitischen Brüdern. Ist also der Bruderkrieg tatsächlich die «Primärform aller kollektiven Konflikte?», wie der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger mahnend fragte. Nachbarschaftliches Zusammenleben basiert auf Vertrauen und dieses gehe immer mehr verloren: «Wir blicken auf die Weltkarte. Wir lokalisieren Kriege in entfernten Gegenden, am besten in der Dritten Welt. [...] Es kommt uns so vor, als spiele sich der unverständliche Kampf in grosser Entfernung ab. Aber das ist eine Selbsttäuschung. In Wirklichkeit hat der Bürgerkrieg längst in den Metropolen Einzug gehalten. Seine Metastasen gehören zum Alltag der grossen Städte [...]. Geführt wird er nicht nur von Terroristen und Geheimdiensten, Mafiosi und Skinheads, Drogengangs und Todesschwadronen, sondern auch von unauffälligen Bürgern, die sich über Nacht in Hooligans, Brandstifter, Amokläufer und Serienkiller verwandeln. [...] Der Bürgerkrieg kommt nicht von aussen, er ist kein eingeschleppter Virus, sondern ein endogener Prozess.» Geht man davon aus, dann drohen Feindschaft und Feindseligkeit zu Schlüsselworten der gesellschaftspolitischen und geistigen Haltung unserer Zeit zu werden.

Theoretiker der Feindschaft sehen im Krieg einen Naturzustand; während Theoretiker der Freundschaft Krieg als Folge bestimmter gesellschaftspolitischer und/oder ökonomischer Ursachen begreifen. Für die Theoretiker der Feindschaft ist Feindschaft ein Faktum, das niemand aus der Welt schaffen und das man auch nicht ungestraft vergessen könne. Folglich dürfe Feindschaft auch nicht moralisch herabgewürdigt werden. Politiker der Feindschaft sehen sich als ausgeprägte Realpolitiker. Sie wünschen sich die Welt nicht anders, als sie ist. Sie wollen keine Veränderung, stellen nichts in Frage, suchen keinen Neuanfang. Ihre Politiken sind Garanten für die gewaltschwangere Beziehung zwischen nahen Menschen. Ihren primären Ausdruck findet diese Feindschaft für sie eben im Bürgerkrieg, der sich zwischen Nachbarn und Brüdern abspielt.

Distanz halten

In seiner kurzen Erzählung Der Nachbar skizzierte der Schriftsteller Franz Kafka, wie alleine aus einem Gefühl ein Feind geboren werden kann. Ein Mann, der in einem Mietshaus wohnt, registriert, dass nebenan ein neuer Mieter eingezogen ist. Er kennt dessen Namen nur vom Klingelschild. Mehr und mehr entwickelt er eine Wahnvorstellung, fühlt sich verfolgt, er glaubt, abgehört zu werden, glaubt, dass jener bereits gegen ihn arbeitet...

Eine ähnliche Erfahrung bringt der Dichter Dieter Leisegang zum Ausdruck: Über mir wohnt ein Mann / Ich höre ihn hereinkommen nachts / Höre, wenn er sich Kaffee kocht. / Viel ist das nicht. / Gerade genug, um zu wissen / dass er / Mein Feind ist.

Beide Texte offenbaren eine besondere Erfahrung: Nachbarschaft als Ort grundloser Feindschaft. Grundlos aber nur im Blick auf den Feind, der keine Gründe für die Feindschaft liefert. Damit wird die Perspektive umgekehrt: Ich bin derjenige, der den Anderen zum Feind macht. Es gibt also «weder natürliche noch objektive […] zur Feindschaft verurteilte Wesen». Feindschaft stellt vielmehr das Ergebnis einer vorgängigen Verfeindung dar, «durch die verfeindet wird, was niemals an sich bereits verfeindet ist» – so fasst es der Philosoph Burkhard Liebsch zusammen.

Wie also umgehen mit der Wechselwirkung zwischen Nachbar und Feind? Max Weber, einflussreicher Wirtschafts- und Sozialtheoretiker, beschreibt Nachbarschaft als räumliche Nähe und die dadurch gegebene Gemeinsamkeit einer Interessenlage. Das Kennzeichen dieser Nähe sei allerdings die «Innehaltung möglichster Distanz». Nachbarschaftliches Handeln ist ihm zufolge Ausnahmehandeln und als solches zumeist einer Gefahr geschuldet. Aus diesem Grund ist Nachbarschaft auch primär durch Nichteinmischung charakterisiert. Der Nachbar, so Weber, ist der typische Nothelfer. Nachbarschaft werde erst durch persönliche Feindschaft oder Interessenskonflikte zerstört, die aufgrund besonders enger und persönlicher Beziehungen entstehen.

Was also gilt es vor diesem Hintergrund zu beachten? Die Herausforderung der Nachbarschaft besteht darin, einzusehen, dass der Nachbar nicht nur der Feind, sondern auch mein Nächster ist. «Liebe deinen Nächsten» heisst im Englischen «Love your neighbour», was wir wortwörtlich mit «Liebe deinen Nachbarn» übersetzen würden. Das Gebot der Nächstenliebe kann nicht verstanden werden ohne das Gebot der Feindesliebe. Beide gehören zusammen. Feindesliebe schärft das Bewusstsein dafür, dass nicht nur der Andere mein Feind ist, sondern dass auch ich Feind bin, nämlich Feind des Anderen. Wenn ich mitverantwortlich bin für Verfeindungszusammenhänge, dann darf ich im Anderen nie nur den Feind sehen. Sondern ich muss in ihm immer auch den anderen Menschen mit seinem verwundbaren Antlitz sehen, demgegenüber ich immer noch Verantwortung trage. Es ist die Feindesliebe, die das Wesen der Nachbarschaft offenbart: Sie begründet den Anfang von Nachbarschaft jenseits der Feindschaft, weil sie unseren Blick auf die Verletzlichkeit des Anderen lenkt.


Dieser Artikel erschien im Bulletin Hallo, Nachbar. Der tägliche Tanz um Nähe und Distanz (2017). Das PDF des Magazins kann hier heruntergeladen werden.

Professor Jürgen Manemann (*1963) leitet das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover (fiph) und lebt in Hannover. Seine Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem neue Demokratie- und Politiktheorien. Zur Nachbarschaftlichkeit hat er folgendes Buch publiziert: Wie wir gut zusammen leben. 11 Thesen für eine Rückkehr zur Politik. Patmos Verlag, Ostfildern, 2013.

 
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