Brauchen wir Kultur?

 

Karolina Widla • Mai 2020

Trotz vielfältiger Gegenbemühungen haftet dem Kulturbetrieb und Kulturschaffen – und somit der «Kultur» selbst – immer noch eine Aura des Abgehobenen und Alltagsfernen an. Dabei hat vieles, was allgemein als Kultur gilt, schon lange den Weg in unseren Alltag gefunden: Früher begleitete Musik vor allem die Liturgie oder diente an den Höfen der Mächtigen als Statussymbol, heute hört man die Klassiker im Wohnzimmer oder geniesst die aktuellen Hits während der Autofahrt. Einst schufen Bildhauer grandiose Statuen zu Ehren militärischer Siege, während Skulpturen heute in Parks oder auf Kreiselmitten das Auge erfreuen. Und dennoch gilt Kultur vielen nach wie vor nicht als fester Teil unserer Lebenswelt, sondern bestenfalls als Augenschmaus und schöne Nebensache. Das wird deutlich, sobald es um die Verteilung von Ressourcen geht. Fast mehr als die Bilder der 2019 brennenden Notre Dame in Paris bleiben die Diskussionen in Erinnerung, welche das massive Spendenaufkommen für den Wiederaufbau kritisierten. In den Kommentarspalten der Zeitungen und in Internetforen vernahm man entrüstete Zwischenrufe. «Kein Geld für Restaurierung von Kulturgütern, von leblosen Steinen, solange es auf dieser Welt noch Hunger, Krieg und Unterdrückung gibt!» so der Tenor. Ähnliche, natürlich weniger polemische Begründungen kommen bei Budgetkürzungen im Kulturbereich zum Zug. Auch da argumentiert man gerne, dass das Geld für Wichtigeres verwendet werden soll.

Heute, im April 2020, ist die Frage, was wirklich wichtig ist, drängender denn je. Die aktuelle Situation scheint jenen recht zu geben, die Kultur für nebensächlich, für den Zeitvertreib einiger weniger «Bildungsbürger», halten. Die kulturellen Angebote der Schweiz – vom Kunsthaus zum Malkurs der Migros Klubschule, vom Opernhaus zum alternativen Konzertlokal – sind bis auf weiteres geschlossen. Ist Kultur also überhaupt notwendig oder kann sie ersatzlos gestrichen werden? Brauchen wir, als Individuen und als Gesellschaft Kultur überhaupt?

Gemeinsame Erzählungen

«Kultur ist kein Luxus, den wir uns leisten oder nach Belieben streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere innere Überlebensfähigkeit sichert» sagte der damalige deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1991 in einer Rede zur Kulturförderung. Können wir dem heute noch zustimmen? Sichert ein Gang durch die Art Basel unsere innere Überlebensfähigkeit? Zuallererst sollten wir uns die Frage stellen, was Kultur überhaupt ist, um ihre gesamtgesellschaftliche Bedeutung beurteilen zu können. Wenn man von einem sehr eng gefassten Kulturbegriff ausgeht, der streng unterscheidet, zwischen einer wertvollen, schützenswerten Hochkultur und einer Populärkultur, die zwar unterhalten kann aber keine nachhaltige Qualität hat, wird der gesamtgesellschaftliche Wert der Kultur kaum erkennbar. Diese Sichtweise untergräbt die vielfältigen Bemühungen, sich zugunsten einer offeneren und inklusiveren Gesellschaft endlich von diesem «feinen Unterschied», wie ihn unter anderem der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seinem gleichnamigen Klassiker postuliert, zu verabschieden. Damit ist gemeint, dass die Art der kulturellen Unterhaltung, die die Menschen wertschätzen, von ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht abhängt und die Menschen voneinander abtrennt. Eine Auffassung von Kultur, die trennt, statt zu verbinden - darauf kann man durchaus verzichten.

Kultur ist kein Luxus, den wir uns leisten oder nach Belieben streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere innere Überlebensfähigkeit sichert.
— Richard von Weizsäcker

Den eigentlichen Stellenwert der Kultur in unserer Gesellschaft erkennt man erst, wenn man den Begriff erweitert. Wir sollten Kultur breiter denken. Dafür lohnt sich ein Blick in die Theorien der Kulturphilosophie und Kulturanthropologie. Hier ist Kultur alles, was Interaktion zwischen den Menschen untereinander, aber auch mit ihrer Umwelt, ermöglicht. Der deutsche Kulturphilosoph Ernst Cassirer schrieb 1944 im amerikanischen Exil in seinem Spätwerk Versuch über den Menschen Kultur sei der Prozess der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen. «In ihnen allen (in den unterschiedlichen Ausprägungen der Kultur, Anm. Redaktion) entdeckt und erweist der Mensch eine neue Kraft, die Kraft, sich eine eigene, ideale Welt zu errichten.» Kultur ist also auch der Wunsch der Menschen nach einem besseren Leben, die Suche nach einer idealen, einer bestmöglichen Welt. Kultur kommt zum Zug, wenn Menschen versuchen, sich die Welt um sich herum zu erklären und sie gemeinsam zu verstehen. Durch diese gemeinsame Kommunikation wird Gemeinschaft geschaffen und die Menschen zum Teilhaben und Mitmachen eingeladen. Dafür steht uns ein Repertoire von zahllosen gemeinsamen Geschichten, Erzählungen, Motiven und Symbolen zur Verfügung. Sie sind festgehalten in Ölgemälden oder Graffitis, in Paperbacks oder Blogs, in den Skripten von Opern oder Filmen. Viele dieser Werke sind natürlich weit davon entfernt, für alle gleichermassen interessant und verständlich zu sein oder gar eine tiefergreifende Erkenntnis zu bieten. Sie alle aber sind ein Spiegel von uns, als Individuen und als Gesellschaft, von dem wovon wir träumen und wovon wir uns fürchten, von dem, was wir für gut und für böse halten. Kultur ist nicht nur das Gemälde oder das Bauwerk, sondern auch die Summe der Gedanken und Erfahrungen, die dahinterstehen. All diese Narrative geben uns auch die Möglichkeit, in andere Lebenswelten einzutauchen. Nicht umsonst lässt der US-amerikanische Schriftsteller George R.R. Martin eine der Figuren seiner Fantasy-Sage Das Lied von Eis und Feuer sagen, ein Leser lebe tausend Leben bis er stirbt und jemand, der niemals liest, nur eines. In unserer demokratischen, multioptionalen Gesellschaft ist es wichtiger denn je, sich auf andere Lebensrealitäten einzulassen und verschiedene Erfahrungen zu berücksichtigen, um möglichst informierte Entscheidungen treffen zu können.

Kultur wandelt sich mit uns

Betrachtet man Kultur durch die Linse einer starken Trennung zwischen Hoch- und Populärkultur, übersieht man auch leicht, dass jeder Beitrag zur Kultur ein Kind seiner Zeit ist und die Sichtweise darauf sich rasch ändern kann. Die heute so beliebten Impressionisten waren zu ihrer Zeit vernichtender Kritik ausgesetzt. Zum Beispiel vermerkte ein Kunstkritiker 1874, ein einfaches Tapetenmuster sei künstlerisch anspruchsvoller als ein Bild von Monet. Und so ist es nicht abwegig, dass der poppige Bestseller vom letzten Jahr irgendwann ein Klassiker der zeitgenössischen Literatur sein wird. Kultur lädt uns also ein, über den eigenen Tellerrand zu blicken und Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Man sollte Werke, die für uns kulturell bedeutend sind, nicht auf ein Podest stellen, als unerreichbare, unantastbare Ideale sehen. Genauso wie unsere Beziehungen und unsere Gesellschaft einem steten Wandel unterworfen sind, so ändert sich auch die Kultur mit uns. Das soll uns keineswegs verunsichern, sondern vielmehr ermutigen, eigene Fragen zu stellen, kritisch zu sein und auch mal zuzugeben, dass man etwas noch nicht weiss. Denn Kultur ist nicht nur etwas, was es zu pflegen und zu bewahren gilt, sondern auch etwas, was wir gemeinsam weiterentwickeln und mit unseren Wünschen und Sehnsüchten immer wieder neu beleben. Kultur, das sind nämlich wir alle. Und, um auf die Anfangsfrage zurückzukommen, ja, wir brauchen sie.

Mai 2020.


Karolina Widla (*1990) studierte Kulturwissenschaften und Archäologie in Zürich und Berlin. Sie ist seit 2019 kuratorische Assistentin im Vögele Kultur Zentrum.

 
Daniel Vuilleumier