Slow Food fürs Gehirn

 

Christina Teuber •  3 Minuten

Ein Buchtipp für Geduldige!

Zeit und Beschleunigung sind vielgestaltige Phänomene. Nebst ihren kulturell bedingten Komponenten, ist die Wahrnehmung von Zeit und ihrer Geschwindigkeit auch immer situationsabhängig und subjektiv. Das mussten wir als Gesellschaft in den letzten Monaten bewusst den je erfahren. Während sich bei einigen die Tage in Isolation endlos dahinzogen, schien den Forscherinnen und Forschern auf der Suche nach dem Corona-Impfstoff die Zeit davonzurennen.

In unserer individuellen Wahrnehmung können Augenblicke ewig dauern, Stunden wie im Flug vergehen oder das Ende der Pandemie unendlich weit weg erscheinen. Warum also nicht die Zeit nutzen, um sich den Phänomenen Zeit und Beschleunigung in ihrer ganzen Vielfalt zu widmen. Zum Beispiel mit einem Buchtipp von unserer Kommunikationsverantwortlichen Christina Teuber:


Das Buch ist kein ‘Fast Food’. Es liest sich nicht als Zwischendurch-Lektüre unterwegs. Wer das Phänomen der Beschleunigung wirklich verstehen will, braucht… Zeit. Dafür erhält man viele neue Denkansätze, die in die Tiefe gehen.
— Christina Teuber

Fast Food, Speed Dating, Multitasking: Beschleunigung ist in aller Munde. Manche begrüssen den Speed-up des Lebens, anderen wiederum warnen davor, dass die Menschen längerfristig nicht mit diesem rasenden Tempo mithalten können. Aber was beschleunigt sich eigentlich in unserer Gesellschaft? Nach welchen Mechanismen geschieht dies? Und welche Ursachen und Auswirkungen hat dies auf uns? Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa (*1965) ist einer der wenigen Wissenschaftler, die sich ausführlich mit dem Phänomen der Beschleunigung beschäftigt hat. In seinem Fachbuch Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne zeichnet er ein unglaublich differenziertes Bild davon, mit welchem Verständnis von Zeit und Beschleunigung Gesellschaften und Individuen operieren und was das für Konsequenzen hat.

Soziologie statt Technologie

Viele von uns kamen mit dem Thema der Beschleunigung vor allem über die Technologie in Berührung. Rosa setzt in seinem Buch keinen Schwerpunkt darauf. Ihn interessiert viel mehr, welche soziologische Veränderungen sich in der Gesellschaft vollziehen. Und er sieht haufenweise Beispiele für die Beschleunigung in unserem Alltag: Familienstrukturen verändern sich kontinuierlich, wir wechseln den Job häufiger als je zuvor in der Geschichte. Wir essen, schlafen und spazieren schneller als frühere Generationen, das ist wissenschaftlich belegt. Die Welt, in der wir leben wird durch die kontinuierliche Veränderung aber auch unzuverlässiger. Wir können uns auf keine Strukturen mehr verlassen, da sich diese ständig reformieren.

Wir, die Erfahrungssammler

Dem Beschleunigungswahn entgegenwirken könnte man mit Pausen und Auszeiten. Diese werden in unserer Gesellschaft jedoch eher negativ bewertet, so der Autor. Weshalb das so ist? Rosa hat darauf eine klare Antwort: In einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft bedeutet eine Pause Wissensverlust. Wir sind nicht mehr auf dem neusten Stand und werden unmodern. Dies führt dazu, dass viele Menschen sich gezwungen fühlen, im Hamsterrad mitzurennen. Denn ein erfülltes Leben, so der brillante Denker, werde heute von vielen darüber definiert, wie reich wir an Erfahrungen sind – also wie viele neue Länder wir erkundet, Sprachen gelernt, Hobbys wir ausprobiert haben. Wir, die Erfahrungssammler. Je mehr Optionen wir genutzt haben, desto reicher müsse unser Leben sein, so die allgemeine Denkweise.

Die Politik in der Zwickmühle

Was das Buch von Rosa so interessant macht, ist die Themenbreite, auf die er das Konzept der Beschleunigung anwendet. Dazu gehört auch die Politik. Für den Politikwissenschaftler agiert diese momentan nur auf Druck von aussen, also defensiv. Politikerinnen und Politiker löschen nur die grössten Brände. Für langfristige Visionen bleibe keine Zeit. Das hat auch mit dem steigenden Komplexitätsgrad unserer Welt zu tun. Um zukunftsgerichtet zu handeln, müsse man mehr Risiken und Faktoren in Betracht ziehen, als je zuvor. Und diese Zeit, Sie ahnen es, hat man eben nicht. Ein Teufelskreis.

Nicht geeignet für Speed-Reading

Das sind nur wenige Einblicke in die unterschiedlichsten Themenbereiche, die Hartmut Rosa mit dem Phänomen der Beschleunigung zu erklären versucht. Wer jetzt an ein dichtes Buch voller Theorien denkt, liegt goldrichtig: Auf 537 Seiten lotet der Autor die gesamte Breite und Tiefe des Themas aus. Er erfasst sehr genau, wie verschiedene Akteure mit Beschleunigung umgehen, über sie denken oder von ihr geprägt sind. Studien und theoretische Ansätze werden von ihm wunderbar mit Beispielen illustriert – die uns manchmal ziemlich präzis die eigenen Denkmuster vorführen. Das Buch ist kein «Fast Food». Es liest sich nicht als Zwischendurch-Lektüre unterwegs. Wer das Phänomen der Beschleunigung wirklich verstehen will, braucht… Zeit. Dafür erhält man neue Denkansätze, die in die Tiefe gehen. Wer sich diese Zeit nimmt, wird sich selbst und die Gesellschaft mit neuen Augen sehen. Und vielleicht auch einmal auf Fast Food, Speed Reading oder Multitasking verzichten.


Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005.

Christina Teuber studierte Theaterwissenschaft und Geschichte an der Universität Bern. Sie ist im Vögele Kultur Zentrum für die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Nebenbei arbeitet sie als Projektleitung und Regieassistentin in der freien Theaterszene.

 
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