Gleich und gleich gesellt sich gern

 

Sebastian Kurtenbach

In Zeiten, in denen Facebook- oder WhatsApp-Gruppen zum Alltag gehören und Freundschaften über lange Distanzen durch kostenlose Video-Telefonie gepflegt werden können, beginnt man schnell, das Lied vom Ende der Nachbarschaft zu singen. Doch so laut man auch singt und so viele Likes man bei Facebook zählt, die Nachbarn sind geblieben. Im Gegensatz zu früher, hat sich aber ihre Rolle und Bedeutung verändert.

Nachbarn sind Menschen wie Frau Müller oder Herr Huber, oder wie wir Soziologen in einer gängigen, zugegeben etwas sperrigen Definition von Bernd Hamm aus dem Jahr 1973 sagen: Eine «[…] soziale Gruppe, deren Mitglieder primär wegen der Gemeinsamkeit des Wohnortes miteinander interagieren». Zwei Schlüsselelemente haben die Nachbarschaft über die Zeit geprägt und auch heute einen unmittelbaren Einfluss auf die Qualität des Zusammenlebens: Kommunikation und Vertrauen.

Soziale Nähe entscheidend

Für die Kommunikation mit den Nachbarn gibt es Rituale und Verhaltenserwartungen. Man grüsst sich im Treppenhaus, nimmt Rücksicht aufeinander, bewahrt das Paket für die Nachbarn auf, wenn sie nicht da sind – und rückt es auch wieder raus. Kontakte darüber hinaus, ausgenommen bei Konflikten, finden eigentlich nur statt, wenn man gleiche Interessen hat. Studierende, die in Wohngemeinschaften leben, werden eher Kommilitonen zu Partys einladen als die junge Familie von nebenan; die es wiederum leichter hat, mit anderen Familien in Kontakt zu kommen. Neben der ähnlichen Lebensphase ist auch die soziale Nähe zueinander hilfreich; Studien haben bewiesen, je geringer die wahrgenommene soziale Distanz zum Nachbarn ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit eines guten nachbarschaftlichen Verhältnisses, da Kommunikationsbarrieren geringer sind – man spricht leichter miteinander. Mit der Digitalisierung sind ausserdem weitere Kommunikationskanäle – wie nebenan.de oder lokale Facebook-Gruppen – hinzugekommen. Sie erfüllen die Sehnsucht nach Kontakten zum Nachbarn und Neuigkeiten aus der Nachbarschaft und ermöglichen dennoch, Distanz zu wahren. Diese Art der Kommunikation ist insbesondere unter den Bedingungen eines flexiblen Arbeitsmarktes hilfreich. Denn auch wenn man erst kürzlich in die Nachbarschaft zugezogen ist, kann man so leicht in einen ersten, vorsichtigen Kontakt mit den Nachbarn kommen.

Gute Nachbarn, gute Gesundheit

Die zweite Konstante von Nachbarschaft ist Vertrauen, was in diesem Zusammenhang auch als Erwartung verstanden werden kann: Die Nachbarn teilen die gleichen Werte und helfen einander, wenn es notwendig ist. Der US-amerikanische Soziologe Robert J. Sampson hat das Konzept der kollektiven Wirksamkeit entwickelt, mit erstaunlich guten empirischen Ergebnissen. Seine Grundüberlegung ist einfach nachzuvollziehen. Je stärker das Vertrauen in die Menschen nebenan ist, desto weniger abweichendes Verhalten, beispielsweise in Form von Kriminalität, gibt es. Eine starke Nachbarschaft, die auch bereit ist, abweichendes Verhalten zu sanktionieren, ist so auch eine sichere Nachbarschaft. Das Konzept wurde mittlerweile weltweit getestet, hat sich bestätigt und zeigt, dass gute Nachbarschaft auch der Gesundheit zugute kommt. Es bringt die Menschen auf eine entspannte Art und Weise zusammen, zum Beispiel in gemeinsam genutzten Räumen oder Grünanlagen.

Wo Nachbarschaft räumlich beginnt und endet, das empfindet jeder anders. Für die einen reicht Nachbarschaft bis zu einer physischen Grenze, wie einer grossen Strasse, für den anderen bis dahin, wo die Bekannten oder Verwandten fussläufig entfernt wohnen. Was banal klingt, stellt sowohl die Stadtplaner als auch die Stadtforscher vor grosse Probleme. Sie müssen Räume geografisch festlegen, allein um arbeiten zu können. Wahlkreise oder Stadtteile werden dann schnell Nachbarschaft genannt, obwohl die Grenzen künstlich gewählt sind und mit den Lebensrealitäten der Bewohner wenig zu tun haben. Ihr Zuschnitt folgt einer anderen Logik, weil sie eher Verwaltungseinheiten als empfundene Nachbarschaften sind.

Distanziertes Miteinander ändert sich in gemeinschaftlichen Notlagen sehr schnell.
— Sebastian Kurtenbach

Vertrauen und Kommunikation behalten ihre Bedeutung, trotzdem wandelt sich die Nachbarschaft. Noch immer leben Menschen mit ähnlichem sozialem Hintergrund häufig im selben Haus, sind also Nachbarn. Doch wie man mit Nachbarn in Kontakt kommt oder kommen will, ist kompliziert geworden. In meinen wissenschaftlichen Untersuchungen erkenne ich mehr und mehr: Distanz ist wichtig, und sie folgt individuellen, fein austarierten und lebensphasenabhängigen Regeln. Im Frühsommer 2017 sass ich mit Freunden in deren Altbauwohnung und diskutierte über Nachbarschaft. Nachbar sei, wen man von seiner Wohnung aus wahrnehmen könne; aber auch derjenige, den man beim Einkaufen treffe. Wichtig seien Offenheit zum Nachbarn und dieselben Werte. Einigkeit bestand darin, dass man sich in der Stadt die Nachbarschaftskontakte eher aussuchen kann als auf dem Dorf. Und da meine Freunde eine kleine Tochter haben, war ihnen das ganz besonders wichtig. Der Vorteil der Grossstadt läge in der grösseren Auswahl an Gleichaltrigen, was sowohl für Eltern wie auch für Kinder zutreffe. Fazit: Man wünscht sich die Möglichkeit von Austausch und sozialer Mischung, um dann doch lieber unter sich zu bleiben. Das ist ein Befund, den es auch in der wissenschaftlichen Literatur gibt. Konkret heisst das, selbst wer in einer Nachbarschaft mit einer hohen Diversität, zum Beispiel Menschen mit sehr unterschiedlichen Einkommen, wohnt, pflegt dennoch eher Kontakte zu Leuten mit ähnlichem Lebensstil, die in einer ähnlichen Lebensphase sind.

Selbstverständlichkeit im Wandel

Nachbarschaftsbeziehungen sind immer ein Spiegel der Zeit. Vor der Industrialisierung war der Nachbar, vom Adel abgesehen, wer nah beim eigenen Bauernhof wohnte, der andere nahe Bauer – «Nachbur». Während der Industrialisierung und dem damit einhergehenden Wachstum der Städte sortierten sich Nachbarschaften vor allem nach Klassen. Arbeiterviertel entstanden, über die wir aus frühen sozialwissenschaftlichen und geografischen Studien mehr wissen als über die bürgerlichen Wohngebiete. Die Arbeiterviertel prägten Klassenbewusstsein und Armut. Mit dem beginnenden 20. Jahrhundert, was in den ersten Jahren von der Etablierung des Sozialstaates und dann von Krisen und Kriegsnot geprägt war, änderten und institutionalisierten sich Nachbarschaftsverhältnisse. Arbeiter- oder Sportvereine, wie zum Beispiel Fussballvereine, sorgten für Austausch. Jetzt trennte man privates und öffentliches Leben. Auch die üblichen sozialen Rituale unter Nachbarn sowie das Wohnen veränderten sich. Die Wohnstube, in der gekocht, gegessen und geschlafen wurde, verschwand. Nun richteten die Menschen Wohnzimmer ein – als neuen Ort der Repräsentation gegenüber Gästen.

Auch wenn nachbarschaftliches Verhalten sich, ebenso wie das gesellschaftliche Zusammenleben insgesamt, verändert hat, so ist Nachbarschaft nach wie vor eine Schicksals- und Nothilfegemeinschaft. Distanziertes Miteinander ändert sich in gemeinschaftlichen Notlagen sehr schnell. Naturkatastrophen, wie Hochwasser oder zu viel Schnee, zeigen immer wieder: Wenn es drauf ankommt, schliesst man sich mit denjenigen zusammen, die nah bei einem selbst wohnen, und zeigt sich solidarisch.

Natürlich hat das Thema Nachbarschaft noch weitere Facetten. Die politische Förderung von Nachbarschaftsprojekten und der Wandel von Wohngebieten, beispielsweise durch Gentrifizierung, bringen neue, eigene Aspekte für das nachbarschaftliche Zusammenleben mit sich. Bei der Debatte um Nachbarschaft bleibt vor allem die Einsicht, dass sie eine Selbstverständlichkeit im Wandel ist. Denn die Gesellschaft erfindet sich immer wieder neu.


Dieser Artikel erschien im Bulletin Hallo, Nachbar. Der tägliche Tanz um Nähe und Distanz (2017). Das PDF des Magazins kann hier heruntergeladen werden.

Sebastian Kurtenbach, (*1987) ist Sozialwissenschaftler und lehrt an der Universität Bielefeld. Er ist für drei Monate in eine Hochhaussiedlung gezogen – 13 000 Einwohner, mehr als 40 Prozent Sozialhilfeempfänger. Nur wenige lebten dort freiwillig.

 
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